Dieser Artikel erschien in der zweiten Ausgabe der Zeitung ‚Tacheles‘.
Der Alltägliche Wahnsinn
Eine weitere linke Position zu Corona
Wir als Diskursiv Aachen hatten im April einen Beitrag zum Umgang mit der Coronakrise veröffentlicht. Dort wurden schon wichtige Punkte zur Entstehung von Viren und zum generellen Umgang der Staaten mit Covid-19 analysiert.[i] Hier wollen wir nochmal kurz reflektieren, ob einzelne Einschätzungen richtig waren bzw. wollen auch neue Entwicklungen in die Analyse einbauen.
Die Grundsituation hat sich nicht geändert.
Die Grundsituation hat sich nicht geändert. Die Pandemie hat sich zwar in den meisten europäischen Ländern abgeschwächt, jedenfalls dort, wo das Virus schon früh wütete. Dennoch sind einige Staaten bzw. Regionen von teilweise größeren lokalen Ausbrüchen betroffen (gewesen). Und eine sogenannte zweite Welle in Europa scheint sich aktuell (Ende Juli) anzubahnen. In den USA folgte auf eine kurze Entlastung ein immenser Anstieg der Zahlen. In anderen Staaten, wie Brasilien, Indien und Südafrika, weisen die Statistiken auf einen kontinuierlichen Anstieg der Infektionen hin. Weltweit sind es zur Zeit 200.000 bis 300.000 neue Fälle jeden Tag. Die Pandemie ist im vollen Gange und auf globaler Ebene ist noch kein Abflachen der „ersten Welle“ sichtbar. Im Ursprungsland China und anderen südost- und ostasiatischen Staaten sind die Neu-Fälle teilweise sehr gering und auch in Europa schienen zwischenzeitlich die getroffenen Maßnahmen ausreichend gewesen zu sein. Eine Verbesserung der Lage trat ein, was eine Wiederöffnung der Wirtschaft zur Folge hatte.
„Coronapartys“ in den Fabriken
Hatten wir im Text vom April auf die legalen „Coronapartys“ in den Fabriken und anderen Arbeitsstellen hingewiesen, so sind genau diese verantwortlich für die Hotspots und größeren lokalen Ausbrüchen geworden. Beim Schlachtbetrieb Tönnies in Gütersloh kam es zum größten Ausbruch, viele hundert Arbeiter*innen wurden infiziert und viele mehr mussten in Quarantäne.[ii] Dass sich Kämpfe gegen solche Verhältnisse lohnen, zeigt das Beispiel Gemüsehof Ritter in Bornheim. Die dort angestellten rumänischen Erntehelfer*innen lebten in beengten Verhältnissen und arbeiteten unter schlechten Bedingungen. Gemeinsam mit der Basisgewerkschaft FAU zeigten sie, dass es sich auszahlt, zu kämpfen. Sie wurden nach kurzer Zeit zumindest teilweise entlohnt.[iii] Auch andere Fälle in der BRD traten auf, zum Beispiel in großen Wohnhäusern wie in Göttingen oder in Massenunterkünften wie in Suhl. Beengte Lebensverhältnisse sind neben schlechten Arbeitsbedingungen der Hauptgrund für die Hotspots. Wir können und müssen daher unsere Forderung nach Schließung aller Massenunterkünfte bei gleichzeitiger Öffnung aller Hotels für deren Bewohner*innen aufrecht erhalten! Darüber hinaus ist genau jetzt die Zeit für Arbeitskampf, sonst wird die Wirtschaftskrise, welche sich weiter verschärfen wird, auf Kosten der Arbeitenden abgewickelt.
Ansteckungsgefahr wird zur Privatsache
Der Kapitalismus hat sich in der BRD in einer ungewöhnlichen Ausformung normalisiert. Während der geschädigten Wirtschaft große Zugeständnisse gemacht werden, müssen viele kulturelle und soziale Projekte um ihr Überleben kämpfen. Noch im April wurde für die „Corona-Helden“ geklatscht, mittlerweile sind die meisten Vorsichtsmaßnahmen längst vergessen. Politiker*innen wie Armin Laschet kamen kaum hinterher, die Öffnung der Wirtschaft voranzutreiben. Statt den Pflegenotstand anzugehen, werden der Lufthansa Milliarden gegeben. Dazu kommt, dass an vielen Arbeitsplätzen keine Schutzmaßnahmen eingehalten werden, obwohl im Privaten auf Social Distancing gesetzt wird. Die Ansteckungsgefahr wird zur Privatsache. Die Zeiten sind hart, wenn man nur auf seine Rolle als Arbeitskraft und Konsument*in reduziert wird. Das Verhalten der Einzelnen bewegt sich zwischen Vereinsamung und Vereinzelung auf der einen und einer „Ich bin mir selbst der Nächste“-Haltung auf der anderen Seite. Jetzt heißt es: Wer Covid-19 bekommt, hat nicht gut genug aufgepasst. Wer arm ist, hat schlechte Entscheidungen getroffen. Selbes Prinzip, Eigenverantwortung statt gesellschaftliches Problem. Keine Veränderung zum alltäglichen Wahnsinn. Oder um es mit Margaret Thatcher zu sagen: „There‘s is no such thing as Society.“
Marx gegen die Verschwörungs-Querfront
In vielen Städten gab es Demonstrationen sogenannter „Corona-Rebellen“. Diese Demos waren ein Sammelbecken für Verschwörungstheorien und Antisemitismus. In Aachen sorgte zum Beispiel die Beteiligung von Andrej Hunko von der Partei „Die Linke“ und Vertreter*innen des Friedenspreises für einen Skandal. Während aber der „linke“ Teil der Verschwörungs-Querfront noch Machteliten am Werk sieht, sind die Reichsbürger u. Ä. schon längst bei der guten alten jüdischen Weltverschwörung angekommen. Das Denken hinter beidem ist gleich. Der Verlauf der Geschichte im Kapitalismus ist dann nicht bestimmt durch das massenhafte, ungeplante Handeln von Marktkonkurrent*innen. Stattdessen werden Hinterzimmer-Mächte vermutet, die alles kontrollieren. Warum funktioniert dieses Denken? Es ist beruhigender zu glauben, Eliten hätten die Kontrolle, als festzustellen, dass sie niemand so wirklich besitzt. Es bleibt daher notwendig anzuerkennen, dass das Problem nicht bei einzelnen Menschen, sondern in unserem Gesellschaftssystem liegt, auch wenn einige viel mehr davon profitieren als andere. Dieses System gilt es zu analysieren und zu verstehen. Dafür gibt es mittlerweile unzählige Einführungen in vernünftige Analysen. Auch wenn es anders scheint, die Gesellschaft ist nicht zu kompliziert, um zumindest ihre grundlegenden Dynamiken erkennen zu können und Marx zu lesen ist kein Hexenwerk.[iv]
Mit Organisationen gegen die Vereinzelung
Die Coronakrise wird uns noch einige Monate beschäftigen. Es wird immer deutlicher, dass die Krise auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung ausgetragen werden soll. Obwohl diese am meisten darunter leidet, kommen ihr die wenigsten staatlichen Hilfsprogramme zugute. Die linke Bewegung hat auf diese Entwicklung bisher kaum Einfluss. Dabei zeigen sich im Moment sehr deutlich die Vorteile von linken Ideen, wie einer Vergesellschaftung der medizinischen Versorgung oder von Wohnraum. Gleichzeitig wird wieder klar, dass der Staat eher Eigentumsverhältnisse schützt als Menschen. Zwangsräumungen während der Pandemie und Befriedung von Arbeitskämpfen sind Beweise dafür. Was bleibt als Perspektive? Zieht euch nicht in die eigenen Wohnungen zurück. Bildet euch und andere, diskutiert, schließt euch zusammen und organisiert euch verbindlich an euren Arbeitsplätzen, in euren Häusern und Vierteln genauso wie in Schule, Uni oder in der Warteschlange vom Arbeitsamt. In Richtung vieler Linker, durchaus auch uns selbst, bleibt zu sagen: Begreift euch endlich wieder selbst als betroffen von hohen Mieten und schlechten Löhnen, denn ihr seid Teil der Gesellschaft und eben nicht eine außer ihr stehende Kraft. Statt andauernd über Kampagnen und Aktionen nachzudenken, ist es an der Zeit, Organisationen aufzubauen, in denen Solidarität gelebt wird, statt ein leeres Wort zu sein. Denn auf Staat und „die Wirtschaft“ kann man sich nicht verlassen, weder in der Pandemie und erst recht nicht beim Kampf um das gute Leben für alle. In diesem Sinne – Vernunft vor Gefühl! Für den Kommunismus!
(Stand Ende Juli 2020: Daher konnten die Auswirkungen der Reiseindustrie nicht behandelt werden.)
[i] https://diskursivaachen.noblogs.org/post/2020/05/03/versuch-einer-linken-position-zur-coronakrise/
[ii] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1139332.rheda-wiedenbrueck-aerger-bei-toennies.html
[iii] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1136978.erntearbeiter-teilerfolg-fuer-feldarbeiter-in-bornheim.html
[iv] https://gegen-kapital-und-nation.org/page/die-misere-hat-system-kapitalismus/