Keine Zeit zum Trauern

Dieser Artikel wurde in der vierten Ausgabe der ‚Tacheles‘ veröffentlicht.

Eine Pflegekraft berichtet von der Corona-Station eines großen Aachener Pflegeheims.

Ich arbeite als Pflegekraft in einem großen Aachener Pflegeheim. Im Folgenden will ich von meinen Erfahrungen bei der Arbeit auf der dortigen Corona-Station berichten. Als Warnung vorweg: Um ein realistisches Abbild meiner Arbeit zu zeichnen, werde ich auch Situationen beschreiben, die womöglich schwer zu ertragen sind.

Der Covid-Ausbruch auf meiner Station verläuft rasend schnell. Zunächst waren nur drei Bewohner*innen erkrankt, doch binnen kürzester Zeit ist ein Großteil des knapp 40 Bewohner*innen fassenden Bereichs betroffen. Fast täglich werden Kolleg*innen nach Hause geschickt, weil die Anzeige der Schnelltests positiv ist. Schnell wird unser Team somit auf einen kleinen Kern reduziert. Das betrifft nicht nur die Pflege, sondern auch die anderen Berufsgruppen: zum Beispiel Reinigung, Küche, Sozialdienst und Therapeut*innen. Am stärksten sind die Ausfälle jedoch in der Pflege, da wir natürlich am wenigsten Distanz wahren können. Wir haben schließlich nur noch 2 Fachkräfte zur Verfügung. So viele würden normalerweise nicht einmal für einen Frühdienst ausreichen. Der Rest des übrigen Personals besteht aus Azubis und Pflegehelfer*innen. Die Personallage ist also prekär und auf dieser Basis versuchen wir irgendwie eine Versorgung zu gewährleisten.

Die meisten Bewohner*innen haben einen hohen Pflegebedarf, sind multimorbide, dement, inkontinent, haben chronische Wunden oder Amputationen, sind in Schmerztherapie und können teilweise nicht selbstständig essen oder trinken. Der Pflegeaufwand, vor allem der medizinisch-therapeutische, ist also immens. Mit dem Personalmangel, der auch ohne Corona bereits stark ausgeprägt war, ist jedoch nur eine Minimalversorgung möglich. Wir hetzen von einem Zimmer zum nächsten, dabei müssen wir ständig die Schutzkittel wechseln und noch stärker als sonst auf die Hygienebestimmungen achten. Unter den synthetischen Kitteln ist es heiß und nass vom vielen Schweiß. Die Bewohner*innen leiden sehr. Vor allem die Isolation macht ihnen zu schaffen. Wir Pflegekräfte sind ihre einzigen Bezugspersonen. Jedoch haben wir meist nicht einmal Zeit für ein Gespräch. Nicht zuletzt, weil die unterstützenden Berufsgruppen fehlen.

Zum Zeitpunkt der ersten Impfung ist bereits die halbe Station infiziert. Die Impfung kommt für uns damit zu spät. Ich habe die ganze Zeit Angst, mich selbst anzustecken und in der Folge auch diejenigen, mit denen ich zusammen lebe, zu gefährden. Ich arbeite trotzdem weiter in dem Bewusstsein, dass dieses Risiko sehr hoch ist.

Bei den Bewohner*innen sehe ich, was eine Infektion am Ende bedeuten kann, denn einige haben schwere Verläufe. Trotz ihrer massiven Beschwerden werden sie nicht in Krankenhäuser verlegt. Uns wird gesagt, man sei dort auch überlastet und könne nicht mehr viel für die Patient*innen tun. Für mich beginnt an dieser Stelle bereits die viel diskutierte Triage, denn unsere Hochaltrigen werden gar nicht mehr ins Krankenhaus gebracht, obwohl sie dort vielleicht noch eine Chance hätten. Nur einer von all jenen, die am Ende sterben werden, stirbt in einem Krankenhaus.

Die Pflege der an Covid Erkrankten ist besonders zeitintensiv und herausfordernd, vor allem bei einer Bewohnerin. Sie versteht aufgrund ihrer Demenz nicht, was mit ihr passiert. Sie hat Todesangst und steht ständig panisch schreiend aus ihrem Bett auf. Sie reißt sich die Kleidung vom Leib, stürzt andauernd und lässt sich von niemandem beruhigen. Nach ein paar Tagen bekommt sie endlich die Palliativ-Einstufung und erhält von uns hohe Dosen an Morphin. Kurze Zeit später ist sie tot.

Viele der Sterbenden oder Verstorbenen kennen wir schon seit Jahren. Ein adäquater Umgang mit dem Tod und die Trauer um diese Menschen ist eigentlich ein wichtiger Teil unseres Berufs. Doch unter diesen Umständen ist es kaum möglich mit Kolleg*innen Erinnerungen an diese Menschen auszutauschen oder sich gebührend zu verabschieden. Der Stress der menschlichen Massenabfertigung geht nämlich weiter. Es gibt keine Zeit zum Trauern.

Bei einigen verschlechtert sich der Allgemeinzustand auch ohne Covid-typische Symptome rapide. Zum Beispiel entstehen oder verschlimmern sich durch mangelnde Bewegung schmerzhafte Kontrakturen  (Muskel- oder Sehnenverkürzungen). Diese ließen sich normalerweise durch simple prophylaktische Maßnahmen vermeiden, jedoch ist selbst dafür zu wenig Zeit. Die Schädigungen sind irreversibel. So auch bei den Demenzerkrankten. Die Isolation setzt ihnen besonders stark zu, da ihnen allgemeine Gesellschaft, Gesprächskreise und Gedächtnistraining mit verschiedenen Sinneseindrücken fehlen. Ein Bewohner ist nach zwei Wochen kaum mehr wiederzuerkennen, da er durch tagelanges einsames Sitzen am Fenster einen massiven Schub in seiner Demenzerkrankung bekommen hat.

Zuhause ist es für mich schwierig abzuschalten. Einerseits kommt noch die Arbeit im eigenen Haushalt hinzu, andererseits lassen mich die Erlebnisse nicht los. Die psychische Belastung ist enorm.

Zum Glück erhalten wir auf der Station schließlich Hilfe. Von anderen Stationen kommen Fachkräfte zur Unterstützung. Es ist jedoch schwierig, diese Kolleg*innen unter den gegebenen Umständen einzuarbeiten. Dennoch erweisen sie sich als unverzichtbare Stütze und wir sind über diese innerbetriebliche Solidarität mehr als dankbar. In Krisenzeiten leiden wir, die Lohnabhängigen und Ausgebeuteten, am meisten. Unsere einzige Möglichkeit dagegen ist ebensolche Solidarität und der Zusammenhalt untereinander.

Über den ganzen Zeitraum hinweg wächst eine unfassbare Wut in mir. Es ist die Wut darüber, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Der private Bereich wurde immer weiter beschränkt, während sich das Virus munter in den Betrieben und Schulen ausbreiten konnte. Ich bin wütend, weil der Pflegenotstand ja nicht vom Himmel gefallen ist, sondern sich die Lage seit vielen Jahren immer mehr verschlechtert hat und nichts dagegen getan wurde.

Es braucht endlich eine angemessene Bezahlung sowie bessere Arbeitszeiten für uns. Ansonsten werden immer mehr Menschen dieser Arbeit den Rücken kehren. Doch eine Verbesserung ist nicht in Aussicht. Die Verantwortlichen haben mit einer Einmalzahlung, die längst nicht alle von uns bekommen haben, und lautem Applaus in den Parlamenten gezeigt, wie wichtig ihnen unsere Berufsgruppe zu sein scheint. Ich will und kann das nicht länger hinnehmen. Was wir in den Heimen und Krankenhäusern in den letzten Monaten geleistet haben, ist für viele kaum zu begreifen. Solange der Dank dafür nur bei Applaus und netten Worten bleibt, werde ich das als Hohn verstehen. Wir Pflegekräfte werden uns zurückholen müssen, was uns zusteht. Damit meine ich unsere Würde und eine anständige Bezahlung, denn unsere Kolleg*innen, die im Kampf gegen diese Pandemie ihr Leben ließen, werden wir nicht zurückholen können.

Unsere Forderungen im Umgang mit dem Corona-Virus

Im vorangegangenen Text wurde eindrücklich erläutert, wie fatal sich das Virus auswirkt. Wenn so weitergemacht wird wie bisher, ist nicht abzusehen, dass sich die Lage mit den aktuellen Mutationen bald verbessern wird. Deshalb braucht es dringend eine gesamtgesellschaftliche, solidarische Strategie, die auch kurz- und mittelfristig wirkt. Im Folgenden stellen wir Punkte vor, wie die Pandemie auf solidarischem Wege eingedämmt werden könnte:

 

  1. Gemeinsam runter auf Null: Das erste Ziel ist, die Ansteckungen auf Null zu reduzieren. Wenn dieses Ziel erreicht ist, können in einem zweiten Schritt die Einschränkungen vorsichtig gelockert werden. Die niedrigen Fallzahlen müssen stabil gehalten und lokale Ausbrüche sofort energisch eingedämmt werden. Wir brauchen auch eine gemeinsame langfristige Vision.

 

Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine solidarische Pause von einigen Wochen. Shutdown heißt: Wir schränken unsere direkten Kontakte auf ein Minimum ein – und zwar auch am Arbeitsplatz! Maßnahmen können nicht erfolgreich sein, wenn sie nur auf die Freizeit konzentriert sind, aber die Arbeitszeit ausnehmen.

 

  1. Niemand darf zurückgelassen werden: Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig. Die Menschen, die von den Auswirkungen des Shutdowns besonders hart betroffen sind, werden besonders unterstützt – wie Menschen mit niedrigen Einkommen, in beengten Wohnverhältnissen, in einem gewalttätigen Umfeld oder Obdachlose. Sammelunterkünfte müssen aufgelöst, geflüchtete Menschen dezentral untergebracht werden. Menschen, die im Shutdown besonders viel Betreuungs- und Sorgearbeit leisten, sollen durch gemeinschaftliche Einrichtungen entlastet werden. Kinder erhalten Unterricht online, notfalls in Kleingruppen.

 

  1. Ausbau der sozialen Gesundheitsinfrastruktur: Der gesamte Gesundheits- und Pflegebereich muss sofort und nachhaltig ausgebaut werden. Das Personal muss in diesem Bereich aufgestockt werden. Die Löhne sind deutlich anzuheben. Das Profitstreben im Gesundheits- und Pflegebereich gefährdet die kollektive Gesundheit. Wir verlangen die Rücknahme bisheriger Privatisierungen und Schließungen. Die Finanzierung von Krankenhäusern über Fallpauschalen sollte durch eine solidarische Finanzierung des Bedarfs ersetzt werden.

 

  1. Impfstoffe sind globales Gemeingut: Eine globale Pandemie lässt sich nur global besiegen. Öffentliche und private Unternehmen müssen umgehend die erforderliche Produktion von Impfstoffen vorbereiten und durchführen. Impfstoffe sollten der privaten Profiterzielung entzogen werden. Sie sind ein Ergebnis der kreativen Zusammenarbeit vieler Menschen, sie müssen der gesamten Menschheit gehören.

 

  1. Solidarische Finanzierung: Die notwendigen Maßnahmen kosten viel Geld. Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich allerdings einige wenige Vermögende angeeignet haben. Mit diesem Reichtum sind die umfassende Arbeitspause und alle solidarischen Maßnahmen problemlos finanzierbar. Darum verlangen wir die Einführung einer europaweiten Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten Einkommen.