Redebeitrag zum 9. November Gedenken: Der Tod des Humanismus im Mittelmeer

In der Nacht des 9. November 1938 zogen, wie in vielen anderen deutschen Städten auch, Schlägertrupps von SS und SA durch Aachen und zerstörten unzählige jüdische Einrichtungen wie die Synagoge, welche sich hier am Synagogenplatz wieder an alter Stelle befindet. Angestachelt von der Politik der NSDAP zog im Jahre 1938 eine solche Gruppe zur Synagoge und brannte sie nieder, während die Aachener Feuerwehr ihre Arbeit darauf beschränkte den Brand so einzudämmen, dass die Flammen nicht auf andere Häuser übertraten und keine Anstalten machte den Brand zu löschen. In der selben Nacht wurden 268 jüdische Menschen festgenommen und in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen deportiert.

Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts stand die Bevölkerung vor einer Wahl. Sie konnten wählen zwischen der nationalsozialistischen Ideologie der NSDAP oder sich schützend vor die jüdische Bevölkerung zu stellen. Sie haben sich fürs erstere entschieden. Durch das Mitmachen oder Wegschauen haben sie den Startschuss für die industrielle Vernichtung von 6 Millionen Juden und Jüdinnen gegeben. Hätte an dieser Stelle die schweigende Mehrheit sich für den Humanismus und gegen die Barbarei entschieden, hätten die Gräueltaten des NS verhindert werden können. Aber die Mehrheit hat zugeschaut und Hitler und seine Partei gewähren lassen. Diese Entwicklung zwang in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts zehntausende von Menschen zur Flucht übers Mittelmeer. In ganz Europa mussten Menschen mit dem Vorrücken der Wehrmacht ihre Heimat verlassen. Damals wie heute war das Mittelmeer und die Ägäis eine Fluchtroute. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten setzen sie ihr Leben in überfüllten Fischerbooten aufs Spiel, um ihr Leben zu retten. Ihre Ziele waren Ägypten, Syrien oder Palästina. Östlich des Suez-Kanals in Ägypten gab es zum Beispiel das Flüchtlingscamp El-Shatt für bis zu 20 000 Personen. Insgesamt gab es neun solcher Lager mit unterschiedlichen Größen. Im kleinsten dieser Lager, in Aleppo, hatten die Flüchtlinge sogar Zugang zu Telefonen, konnten Post verschicken und bekamen ein Taschengeld von umgerechnet ca 7 Euro pro Woche.

Auch heute flüchten Menschen wieder über das Mittelmeer. Doch diesmal ist Europa das Ziel. Sie fliehen aus den vom Assad Regime und anderen islamistischen Gruppierungen zerstörten Städten wie Aleppo, von den Taliban terrorisiertem Afghanistan, vor der Diktatur Afewerkis in Eritrea und unzähligen anderen Gründen. Dabei nutzen die Flüchtlinge die gleichen Routen wie vor knapp 80 Jahren. Doch wie gehen die Menschen in Europa mit der heutigen Fluchtbewegung um? Haben sie aus ihrer eigenen Geschichte gelernt?

Fast täglich erreichen uns Nachrichten von ertrunkenen Menschen vor Italien oder Griechenland, Misshandlungen von Flüchtlingen durch die Polizei und Übergriffe von besorgten Bürgern als auch Neonazis. Auf diese Zustände antworteten die europäischen Politiker_innen nicht mit möglichen sicheren Routen für die Schutzsuchenden, sondern setzt auf Abschottung. Es werden Mauern an den EU-Außengrenzen errichtet, Abkommen mit sogenannten sicheren Herkunftsstaaten wie Afghanistan geschlossen und das Asylrecht immer weiter verschärft. Selbst mit dem eritreischen Diktator verhandelt die EU über eine Grenzsicherung, um eine Flucht vor diesem Militärregime zu unterbinden. Konkret bedeutet diese Entwicklung, dass zahlreiche Menschen in zerstörte oder von Despoten regierten Gebiete abgeschoben werden, in denen kein Leben in Sicherheit möglich ist. Anstatt die Gründe für die Flucht anzugehen und zu bekämpfen werden sie von der Politik ignoriert und totgeschwiegen. Oberstes Ziel ist die Flucht nach Europa unmöglich zu machen. Diese Entwicklung ist kein Geheimnis, sondern wird sogar in der Tagesschau thematisiert.

Heute stehen wir wieder vor einer Wahl wie wir diese Situation als Gesellschaft lösen wollen. Unterstützen wir die von der Politik forcierte Abschottung, erzählen wir erneut, wir hätten nichts gewusst, die Zeichen der Zeit nicht richtig deuten können? Damit nehmen wir die Leichen im Mittelmeer in Kauf. Wir schauen wissend zu wie ein weiteres mal der Humanismus im Mittelmeer stirbt. Oder sind wir bereit zusammen neue Perspektiven zu erarbeiten und Fluchtursachen zu bekämpfen? Uns für ein gutes Leben für alle einzusetzen?

Wir sind nicht dazu verdammt die Geschichte zu wiederholen. Wir können gemeinsam beweisen, dass wir aus ihr gelernt haben. Nun ist die Zeit wieder aufzustehen und sowohl den neonazistischen und konservativen Kräften also auch dem staatlich produzierten strukturellen Rassismus entgegenzutreten. Also lasst uns gemeinsam handeln und ein gutes Leben für alle erkämpfen.