Redebeitrag zum 9. November Gedenken: Fünf Jahre nach dem NSU

Vor ziemlich genau fünf Jahren hat sich die Kerngruppe des NSU selbst enttarnt. Nach einem Banküberfall auf eine Sparkasse in Eisenach lief etwas schief. Böhnhardt und Mundlos werden gesehen, wie sie ihre Flucht-Fahrräder in einem Wohnmobil verstauen. Als die Polizei anrückt um das Wohnmobil, welches mittlerweile in einem Wohngebiet abgestellt wurde, zu untersuchen, hören die Beamten Schüsse und bemerken Rauch aufsteigen. Wenig später werden die Leichen der beiden Neonazis geborgen. Im Fahrzeug findet sich auch eine Ceska, die sich als Mordwaffe in 9 Fällen entpuppte und die Dienstwaffe von Polizistin Kiesewetter, die 2007 in Heilbronn ermordet worden war. Zschäpe sprengte am Nachmittag, mehrere Stunden später, die gemeinsame Wohnung des Trios in Zwickau und irrte noch wenige Tage durch die Republik, um sich dann schließlich später selbst zu stellen.

Da wir dieses Jahr das Gedenken an die Pogromnacht unter der Prämisse des „von nichts gewusst haben“ stellen, sollten wir uns fragen: Wie konnte ein Trio über mehr als 10 Jahre mordend und raubend durch die Republik ziehen ohne entdeckt zu werden?

Die offizielle Aufarbeitung der Morde, Anschlägen und Raubüberfälle ist gelinde gesagt schwach und die offiziellen Versionen des Ablaufs stehen auf wackeligen Beweisen. 10 Morde, 15 Banküberfälle und 3 Sprengstoffanschläge werden dem Trio zugeordnet. Es gibt viele Ungereimtheiten, doch möchte ich hier nur kurz auf einen Fall eingehen.

Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel durch 2 Kopfschüsse getötet. Er war 21 Jahre alt und wollte gerade auf dem Abendgymnasium sein Abitur nachmachen. Der Mord geschah während ein Mitarbeiter des Landesverfassungsschutzes Hessen in einem Nebenraum auf einer Datingseite surfte .Die Außenstelle des LfV Hessen in Kassel bekam an diesem Tag um 16:11 Uhr einen Anruf von einem Informanten aus der militanten Naziszene in Kassel. Um 16:43 Uhr verließ Temme das Gebäude um sich um 16:51 Uhr im Internetcafé einzuloggen. Um 17:01 Uhr fielen laut den weiteren Zeugen im Café Schüsse und ein dumpfes Geräusch war zu hören. Der Verfassungsschützer Andreas Temme verließ nach offizieller Version den Tatort kurz nach dem Mord und legte das Geld auf die blutbeschmierte Theke hinter der Halit Yozgat’s Leiche lag. Die Ausloggzeit am PC stützt diese These, dennoch hätte der 1,90m große Temme die Leiche hinter der Theke wahrnehmen müssen. Ein Zeuge jedoch gibt an, den Mann der an dem Computer saß, nicht eindeutig identifizieren zu können, er hätte aber schon vor dem „dumpfen Aufprall“ Geräusch seinen Platz verlassen.

Erst durch Auswertung der Computer kam die Polizei dem Waffensammler Temme auf die Spur. Dieser hatte sich trotz mehrfachen Fahndungsaufruf nicht bei der Polizei gemeldet und gab später an er hätte nichts bemerkt und wäre schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Temmes Telefon wurde im Zuge der Ermittlungen abgehört. Dabei fiel bei einem Gespräch mit seinem Vorgesetzten Hess von diesem der Satz: „Ich sach ja jedem, äh, wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert: Bitte nicht vorbeifahren!“. In letzter Konsequenz schütze ihn das Innenministerium, dessen damaliger Chef der heutige hessische Ministerpräsident Volker Bouffier war. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, das die berechtigte Frage aufwirft: Wo fängt der NSU an, wer hat von was gewusst, hat der Verfassungsschutz den NSU gewähren lassen oder vielleicht sogar über V-Mann Gelder mit aufgebaut?

Es gab im Umfeld des Trios über 20 V-Männer, die nicht nur Geld vom Staat, im Falle Tino Brandt waren das über 200.000 DM, sondern auch Infos über mögliche Festnahmen durch die Polizei bekamen.

Darüber hinaus wurden beim Verfassungsschutz unzählige Akten im Zusammenhang mit dem NSU geschreddert. Die bisherigen parlamentarischen Untersuchungsausschüsse wurden und werden vom Landes- und Bundesverfassungsschutz in ihrer Arbeit behindert. Akten werden nur geschwärzt zur Verfügung gestellt und Zeug*innen haben Gedächtnislücken. Mehrere Zeug*innen und alte V-Männer sterben unter mysteriösen Umständen, teilweise wenige Stunden bevor sie Aussagen machen sollen.

Wir stehen hier als Antifaschist*innen vor einigen Herausforderungen. Einerseits wird von den Beteiligten gedeckelt, andrerseits sind trotzdem gute Erkenntnisse durch die Untersuchungsausschüsse ans Licht gekommen. Einblicke in die militante Naziszene und in ein breites Unterstützer*innen Netzwerk rund um das Trio aus Jena. Doch ohne gesellschaftlichen Druck wird die weitere Aufklärung immer weiter erschwert werden. Nur mit großen öffentlichen Interesse können die Hinterbliebenen ihrer Forderung nach umfassender Aufarbeitung der Verbrechen auch verwirklichen können.

Doch müssen wir auch Kritik an uns selbst üben. Nach dem Mord an Halit Yozgat in Kassel gab es eine große Demonstration von migrantischen Gruppen, mit der Forderung: „Kein 10. Opfer“. Breite Beteiligung von linken Gruppierungen gab es damals nicht. Wollten oder konnten wir es damals nicht sehen? Was wir aber tun können ist, den Diskurs weiter vorantreiben und im richtigen Moment unbequeme Fragen stellen und den Druck auf der Straße aufrecht erhalten. Das sind wir den Hinterbliebenen schuldig.

In diesem Sinne: Verfassungsschutz auflösen und bedingungslose Öffnung aller Akten!