Dieser Artikel erschien in gekürzter Version in der ersten Ausgabe der Zeitung ‚Tacheles‘ aus Aachen.
Wirklichkeit und Wahrnehmung klaffen zuweilen weit auseinander, wenn es um die Frage danach geht, wem die Stadt denn nun gehöre. Das „Wir brauchen keine Hausbesitzer, denn die Häuser gehören uns“ der Scherben erinnert daran ebenso, wie die auf Mietendemos vorgebrachte Behauptung: „Wohnraum ist keine Ware!“. Während bei den Scherben die Existenz der Hausbesitzer zwar anerkannt wurde, man jedoch die Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Funktion infragestellte, wird im zweiten Fall unter offensichtlicher Verdrängung der monatlich fälligen Mietzahlung so getan, als wäre Wohnraum ein außergesellschaftliches Ding. Außergesellschaftlich deshalb, weil es so klingt, als hätte eine Wohnung qua Natur eine höhere Bestimmung, als der Vermehrung des schnöden Mammons zu dienen. Dieser Zweck, die Generierung von Profit, ist jedoch der Zweck der Warenproduktion, welche kapitalistisch organisiert zwar auch „Schweinesystem“, vor allem aber eines ist, nämlich ein warenproduzierendes System.
Aus dem warenproduzierenden System stammend, beziehungsweise innerhalb dessen produziert, hat Wohnraum ebenso wie ein Laib Brot den Warenstatus inne, welcher sich durch eine Besonderheit auszeichnet: Den Doppelcharakter einer jeden Ware, das heißt gleichzeitig Träger von Gebrauchswert (GW) und Tauschwert (TW) zu sein. Im Warenstatus lässt sich ein Verhältnis erkennen, welches die Beziehung von stofflichem Inhalt und gesellschaftlicher Form bestimmt. Der Gebrauchswert der Ware Wohnraum ist ihrem stofflichen Inhalt nach darin zu sehen, Menschen ein Zuhause bieten zu können, Rückzugsraum zu sein, Schutz vor Witterung zu bieten usw. Diese Nützlichkeit des Wohnraums macht ihren Gebrauchswert aus, „[a]ber diese Nützlichkeit schwebt nicht in der Luft“ (Marx, 2017: 50). Denn innerhalb des Systems der kapitalistischen Warenproduktion besitzt ein produziertes Ding neben seinem durch die Nützlichkeit für den menschlichen Ge‑ oder Verbrauch bestimmten Gebrauchswert auch den Tauschwert, welcher sich im Preis der Ware ausdrückt. Bilden Gebrauchswerte also den „stofflichen Inhalt des Reichtums, [so] bilden sie zugleich die stofflichen Träger des Tauschwerts“ (ebd.). Der Umstand, dass die Warenverteilung im Kapitalismus als Warentausch organisiert ist und Waren zu ihrem Wert (gemeint ist der Tauschwert) miteinander getauscht werden bedingt, dass der gesellschaftlich produzierte Tauschwert den Gebrauchswert als stofflichen, und damit im weitesten Sinne natürlichen, Inhalt der Ware dominiert. Die Tatsache, dass der menschliche Nutzen der Ware Wohnraum auf den ersten Blick ersichtlich ist, während sich bei der Ware Streubombe die Frage nach dem menschlichen Nutzen instinktiv aufdrängt, sollte jedoch nicht dazu führen das Wesentliche zu verkennen. Im Tausch steht der Wert vor der Nützlichkeit der Ware, weswegen auch weder eine schön geschnittene Wohnung noch eine Streubombe eine „höhere Bestimmung“ haben, also nicht außergesellschaftlich zu haben sind. Durch den Tauschwert werden Wohnung und Streubombe also nicht nur über ihren Preis vergleichbar, im Preis löst sich auch ihr Unterschied bezogen auf die Nützlichkeit auf.
Im Kapitalismus gilt: Der Zweck einer produzierten Ware ist nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Darin unterscheiden sich Wohnung und Bombe nicht. Ihr Zweck ist einzig die Bedienung einer zahlungskräftigen Nachfrage beziehungsweise die Realisierung des Tauschwertes, das heißt, Geld mit dem produzierten Ding zu vermehren. Jedoch können auch Waren menschliche Bedürfnisse befriedigen, mehr noch: Sie müssen menschliche Bedürfnisse befriedigen, denn ohne Nützlichkeit wird sich niemand finden, der oder die bereit ist einen Preis für diese Ware zu zahlen, dessen Entrichtung wiederum Voraussetzung dafür ist, dass sich der Tauschwert als alleiniger Zweck der kapitalistischen Produktion am Markt realisieren lässt. Es zeigt sich also, dass die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse im Kapitalismus erstens an die Voraussetzung gekoppelt ist, dass für diese bezahlt wird und zweitens, dass die Bedürfnisbefriedigung nicht Zweck der Produktion von Dingen, sondern notwendiger Zwischenschritt zum eigentlichen Zweck der Kapitalakkumulation ist. Kapitalistische Produktion zielt nicht auf die Produktion von Gebrauchswert, sondern auf die Produktion von Tauschwert und „[d]er Produktionsprozess erscheint nur als unvermeidliches Mittelglied, als notwendiges Übel zum Behuf Geldmachens“ (Marx, 2010: 62).
Es ist dieses System der Warenproduktion, das die Ursache der Misere moderner Städte darstellt, die sich in unterschiedlichen Schattierungen zwischen den Polen der Sozialbaughettos als Verwahreinrichtungen für die Überflüssigen auf der einen und den Wohlstandsghettos der „Gated Communities“ auf der anderen Seite zeigt. Bezogen auf den Wohnraum ist es so, dass das Bedürfnis nach einem Dach über dem Kopf selbstverständlich auch durch warenförmigen Wohnraum befriedigt werden kann, aber eben nur, wenn der dafür fällige Preis bezahlt wird. Dem Wohnraum sind die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen eingeschrieben, die sich zugespitzt wie folgt offenbaren:
GW: im Winter nicht unter der Brücke erfrieren; TW: 765€ + NK, beste Innenstadtlage.
Das Wesen dieses warenproduzierenden Systems, das solche Irrationalität fortlaufend produziert, beruht auf allseitiger Konkurrenz, die auch durch die in Deutschland allseits beliebte Lüge von der „Sozialen Marktwirtschaft“ nicht ausgehebelt werden kann. Denn keine noch so gute Krankenversicherung oder Arbeitslosenunterstützung kann die Konkurrenz des Marktes aufheben. Diese Konkurrenz ist gnadenlos und greift vom Immobilienkonzern über die Städte auch auf die Studentin zu, die sich mit etwas Pech in der Situation widerfindet beim „WG‑Casting“ die anmaßende Jury am Küchentisch davon überzeugen zu müssen, besser ihr als ihrer Freundin das freie 10m² Zimmer zu geben. Bei aller konkreten Unterschiedlichkeit eint Konzern, Stadt und Studentin, dass sie sich innerhalb der Konkurrenz zurechtzufinden haben, deren Auswirkungen sich ungefähr so skizzieren lassen:
Macht der Wohnungskonzern nicht genug Gewinn geht er bankrott. Seine Häuser werden an die verbliebenen Konzerne verscherbelt und vielleicht wird dadurch aus einem mittleren Immobilienkonzern ein „Big Player“. Das große Spiel um den Profit geht am bereinigten Markt weiter und die Wohnungen müssen weiter Gewinn abwerfen.
Ähnliches gilt für die moderne Stadt im Kapitalismus: Auch sie muss wie ein Unternehmen geführt werden und ihre Entwicklung orientiert sich an ökonomischen Fragen. Ist die Stadt attraktiv für Firmen? Gibt es genug Einkaufsmöglichkeiten, die Shoppingwütige aus anderen Städten anlocken? Gibt es eine attraktive Kunst- und Kulturszene, die sog. „junge Kreative“ anzieht? Dürfen die Verlierer der Gesellschaft am Bushof ihr Bier trinken oder am Markt um Kleingeld betteln, oder muss das Stadtbild von ihnen gesäubert werden, da sie nicht in die für die Tourismusindustrie wichtige Innenstadt passen? Dabei fällt auf, dass die unternehmerisch geführten Städte ihren Warencharakter bestenfalls noch notdürftig hinter den Werbeplakaten für die kulturellen, historischen oder innovationsfreundlichen Vorzüge ihres jeweiligen Standortes zu verdecken versuchen. Denn die Stadt ist ebenso wie der Wohnraum eine Ware, die durch städtische Image- und Aufwertungskampagnen vermarktet werden muss. Wie beim warenförmigen Wohnraum ist nicht ausgeschlossen, dass auch in der unternehmerischen Stadt menschliche Bedürfnisse befriedigt werden. Nicht jede LED-Straßenlaterne und jedes Isolierglasfenster sind ein Zeichen für Gentrifizierung. Doch auch hier ist die Bedürfnisbefriedigung bestenfalls ein Nebenprodukt der stetigen Jagd nach Erfolg in der Tretmühle der kapitalistischen Marktkonkurrenz. Fest steht einzig und allein, dass Bedürfnisbefriedigung auf keinen Fall für Alle zu haben ist.
Was die Mieter*innen angeht bleibt eigentlich nur zu sagen, dass die abstrakte Gleichheit vor dem Gesetz zur konkreten Ungleichheit führt: Recht auf Eigentum an Wohnraum für den Einen bedeutet zwangsläufig auch ein Recht auf nicht‑Eigentum daran für die Andere. Ein durchsetzbares Recht auf eine Wohnung gibt es nicht, ganz egal, wie oft humanistisch gesinnt Wohnen zum „Menschenrecht“ erklärt wird. Dann muss im Zweifelsfall, um eine der begehrten Wohnungen zu ergattern die Hälfte des Einkommens verausgabt und an anderer Stelle gespart werden, müssen unverschämte Ablösesummen für den Sperrmüll ausgegeben werden, den die Vormieter*innen nicht zur Straße tragen wollten oder es muss ein Striptease bzgl. der Einkommens‑ und Lebensverhältnisse hingelegt werden, bevor man jeden Monat für ein Grundbedürfnis blechen darf. Wenn ein Rechtsstreit droht, weil die Heizung den halben Winter ausgefallen ist und die Wohnung anfängt zu schimmeln zeigt die Gleichheit vor dem Gesetz ein weiteres Mal, was sie für die nicht‑Besitzenden bereit hält: Mieter*in und Vermieter*in haben natürlich beide das Recht auf anwaltliche Vertretung. Jedoch wird sich vor Gericht herausstellen, dass das Geld, das der Mieter*in für die Anheuerung eines kompetenten Rechtsbeistands fehlt sich in Form der kompetenten Rechtsvertretung auf der Gegenseite wieder zeigt. Ihre bisher geleistete Mietzahlung wird nun dazu verwendet, die vorgenommene Mietminderung für unrechtmäßig erklären zu lassen. Das Recht auf Eigentum macht es möglich: „Haben Sie denn auch regelmäßig gelüftet?“
An dem, was je nach politischer Gesinnung „Wohnungskrise“ oder „angespannter Wohnungsmarkt“ genannt wird, wird beispielhaft eines deutlich: Dass das System der kapitalistisch organisierten Warenproduktion allgegenwärtig ist, auf alle Akteure der Marktgesellschaft und auch auf die alltäglichsten und grundlegendsten Dimensionen menschlichen Lebens zugreift, sowie außerdem, dass es dabei nicht menschlich zugehen kann und konkurrenzbedingt irgendwer immer über die Klinge springen muss. Dementsprechend sind Fragen nach einer möglichen Zähmung des Kapitalismus zumindest für eine radikale Linke ebenso sinnlos, wie eine moralinsaure und folgenlose Skandalisierung der Zumutungen des kapitalistischen Normalvollzugs. Sie stellen weder den Warencharakter des Wohnraums noch die warenproduzierende Formierung der Gesellschaft in Gänze infrage. Dieses Geschäft der mindestens systemimmanenten, wenn nicht gar der systemaffirmierenden Pseudokritik, insbesondere wenn sie „konstruktiv“ daherkommt, sollte das der Sozialdemokratie und der Wohlfahrtsverbände bleiben. Denn was das warenproduzierende System verdient ist nicht Konstruktivität, sondern Destruktivität. Es verdient eine Kritik, die weiß, dass „[i]hr Gegenstand […] ihr Feind [ist], den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will“ (Marx, 1976: 380).
Die Frage „Wem gehört die Stadt?“ gehört entsorgt, da sie längst beantwortet ist: Sie gehört den Saurens, Vonovias, der Deutschen Wohnen und der Staat als ideeller Gesamtkapitalist wird mit Art. 14 GG. dafür sorgen, dass es erst mal so bleibt. Diese Grundbedingung kapitalistischer Vergesellschaftung, die Einteilung der Gesellschaft in Besitzende und nicht‑Besitzende, ist wiederum zugleich das sich dem Alltagsbewusstsein Zeigende; Ursache und Symptom zugleich. Dadurch verkommt Kapitalismuskritik in der Praxis häufig zur Kapitalistenkritik. Kapitalist*in wie Lohnabhängige sind Resultat und Ausdruck der realen Produktionsbedingungen. Werden die Kapitalist*innen als „Personifikation ökonomischer Kategorien [und] Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen“ (Marx, 2017: 16) jedoch einer personalisierten Kritik unterzogen, anstatt das Klassenverhältnis zu kritisieren, ergibt sich eine Anschlussfähigkeit an die Trennung des Kapitals in einen schaffenden und guten Teil, sowie in einen raffenden und demnach schlechten Teil. Diese Form reaktionärer Kritik gilt es ebenso zu bekämpfen wie das warenproduzierende System, kündigt sich doch in den Auseinandersetzungen zur Wohnungsfrage regelmäßig an, dass hier die als negativ empfundenen Auswirkungen des Kapitalismus bei Beibehaltung der antagonistischen Grundstruktur der Gesellschaft abgeschafft werden sollen, wenn gegen „Spekulanten“, „Immobilienhaie“ oder „Heuschrecken“ ins Feld gezogen wird.
Beispielhaft zeigt sich an der Möglichkeit, dass internationale Konzerne mit der Ware Wohnraum Profit machen, ohne diese zu vermieten indem sie auf auf die Verteuerung des Bodens in den Städten zu spekulieren, dass der Fortschritt auf Basis der antagonistischen Vergesellschaftung ein dialektischer ist. Technischer Fortschritt, allzu oft fälschlich als „gesellschaftlicher Fortschritt“ bezeichnet, kann menschlichen Rückschritt bedingen, wie es sich auf dem Wohnungsmarkt zeigt, wenn Menschen permanent und häufig verzweifelt auf der Suche nach einer leistbaren Wohnung sind, während in den Städten hunderte Wohnungen leer stehen. So unangreifbar die menschengemachten Produktionsverhältnisse und ihre Institutionen auch zu sein scheinen, so sehr wälzen sie sich von der allumfassenden Konkurrenz befeuert doch permanent um und halten somit auch das Potenzial ihrer Überwindung und die Verwirklichung des anderen, menschlichen Fortschritts bereit:
„Nicht bloß verlangt das Ganze, um nicht unterzugehen, seine Änderung, sondern es ist ihm auch, kraft seines antagonistischen Wesens unmöglich, jene volle Identität mit den Menschen zu erzwingen, die in den negativen Utopien goutiert wird. Darum ist der innerweltliche Fortschritt, Widersacher des anderen, zugleich auch offen für dessen Möglichkeit, wie wenig immer er diese in sein eigenes Gesetz hineinzuschlingen vermag.“ (Adorno, 1962: 44)
Um die warenförmige Vergesellschaftung als Ursache der Krise auf dem Wohnungsmarkt angemessen kritisieren und auf ihre Überwindung hinarbeiten zu können, ist es für eine radikale Linke also unerlässlich die Kritik der politischen Ökonomie wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Denn die Zustände und Zumutungen, denen Mieter*innen in ihrem täglichen Leben viel zu oft ausgeliefert sind verweisen auf eines: Dass es um das Ganze einer unmenschlich eingerichteten Gesellschaftsformation geht, die menschengemacht in all ihrer verheerenden und allmächtig erscheinenden Wirksamkeit sich gegen die Möglichkeit der Überwindung hin zu einer menschlicheren Einrichtung als echte Gesellschaft nicht vollends abdichten kann. Dass die Forderung „die Häuser denen, die drin wohnen“ verwirklicht werden kann, denn die Realität spottet den Möglichkeiten seit langem. Und das nicht nur beim Thema Wohnen.
Adorno, Theodor W. (1962): Fortschritt. In: Ders. (1969): Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt a.M.
Marx, Karl (1976): Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. In: Karl Marx/Friedrich Engels Werke, Bd. 1, Berlin/DDR
Marx, Karl (2010): Das Kapital. Der Zirkulationsprozeß des Kapitals. Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels Werke, Bd. 24, Berlin
Marx, Karl (2017): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels Werke, Bd. 23, Berlin